Macht, Öffentlichkeit und Rollenbilder in Schillers Maria Stuart
Was hat ein Theaterstück aus dem Jahr 1800 mit der heutigen Gesellschaft gemeinsam? Diese Frage stellte sich am Ende einer Unterrichtseinheit zu Friedrich Schillers «Maria Stuart». Im Zentrum unserer Analyse standen unterschiedliche Aspekte politischer Macht – insbesondere die Rolle der öffentlichen Meinung, persönliche Autorität sowie die Spannung zwischen Pflicht und individueller Entscheidung.
Im Drama begegnen sich zwei historische Königinnen: Maria Stuart, die katholische Königin von Schottland und Ehefrau des französischen Königs, und ihre protestantische Cousine Elisabeth I., Königin von England. Schiller konstruiert ihren Konflikt nicht nur als persönlichen, sondern vor allem als politischen Machtkampf, in dem Legitimität, Öffentlichkeit und moralische Ansprüche miteinander ringen. Besonders das fiktive Aufeinandertreffen der beiden Frauen im dritten Akt wurde im Unterricht als Schlüsselstelle zur Analyse von Herrschaftsmechanismen definiert. Ein zentraler Aspekt war die Rolle der öffentlichen Meinung. Während Maria kaum noch reale politische Macht besitzt, bleibt ihre Erscheinung dennoch symbolisch aufgeladen: Sie verkörpert katholische Tradition, adlige Herkunft und eine Form von charismatischer Autorität. Elisabeth hingegen steht in einem viel komplexeren Spannungsverhältnis: Ihre politische Macht ist nicht absolut, sondern basiert stark auf Zustimmung – die Zustimmung des Volkes und die ihrer Berater. Wie ihr Vertrauter Burleigh betont, ist sie „eine Marionette des Volkes“. Das bedeutet: Ihre Entscheidungen - besonders im Hinblick auf das Todesurteil Marias - wird nicht nur politisch, sondern auch vom Bild beeinflusst, das sie öffentlich abgeben muss. Im Unterricht haben wir uns mit den Begriffen „legitime Macht“, „charismatische Herrschaft“ (nach Max Weber) und „Zwangsmacht“ auseinandergesetzt, um die unterschiedlichen Machtquellen und -formen beider Figuren differenziert zu verstehen. Wir haben analysiert, wie Schiller Elisabeths innere Zerrissenheit zwischen persönlicher Menschlichkeit und politischem Druck herausarbeitet – ein Spannungsverhältnis, das bis heute nicht an Relevanz verloren hat.
Machtbilder und Frauenrollen – damals und heute
Die Frage nach der Aktualität von Schillers Drama lässt sich besonders gut an einem Aspekt weiterdenken: der Rolle von Frauen in politischen Führungspositionen. Elisabeth I. steht im Stück exemplarisch für eine Frau, die unter einem doppelten Druck steht: Sie muss nicht nur politisch wirksam handeln, sondern auch ihre Weiblichkeit mit der Autorität einer Herrscherin vereinbaren, was sie verletzlich macht und von Erwartungen und Ängsten unter Druck gesetzt werden lässt. Dabei bringt Elisabeth I. in Friedrich Schillers Maria Stuart mit verschiedenen Worten einen zentralen Konflikt des Dramas auf den Punkt: die Spannung zwischen politischer Rolle und persönlicher Identität, besonders unter dem kritischen Blick der Öffentlichkeit. Ihre politische Macht ist keineswegs absolut - sie hängt entscheidend von der Zustimmung des Volkes und einer durchdachten öffentlichen Inszenierung ab. Ein aktuelles Beispiel, das dieses Problem spiegelt, ist die politische Karriere von Park Geun-hye, der ersten Präsidentin Südkoreas (Amtszeit 2013–2017). Als Tochter des langjährigen Diktators Park Chung-hee wurde sie zunächst mit grosser Hoffnung gewählt – eine Frau an der Spitze eines Landes, das in Sachen Gleichstellung allerdings noch viele Hürden kennt. Ihre Präsenz sollte wahrscheinlich Wandel und Stabilität zugleich symbolisieren. Doch ähnlich wie Elisabeth I. stand sie unter einer doppelten Erwartung: politisch stark und gleichzeitig moralisch unangreifbar zu sein. Im Laufe ihrer Amtszeit verlor Park jedoch zunehmend den Rückhalt der Bevölkerung - nicht nur wegen eines realen politischen Skandals, sondern auch, weil ihr Verhalten als "kalt", "unweiblich" oder „zu distanziert“ wahrgenommen wurde. Die massive öffentliche Empörung mündete 2016 in Massenprotesten und letztlich in ihrer Absetzung. Die Kritik an ihrer politischen Leistung war untrennbar verwoben mit geschlechtsspezifischen Urteilen. Ihre Autorität wurde nicht allein auf der Grundlage rationaler Analyse, sondern stark emotional und moralisch aufgeladen beurteilt - ganz wie bei Elisabeth im Drama. Beide Fälle – historisch wie zeitgenössisch - zeigen: Frauen in Machtpositionen sind bis heute einem erhöhten Mass an öffentlicher Kontrolle und moralischer Bewertung ausgesetzt. Ihre Legitimität speist sich nicht allein aus politischem Mandat, sondern muss permanent gegenüber einer emotional reagierenden Öffentlichkeit behauptet werden. Das macht Maria Stuart zu einem erstaunlich aktuellen Stück über Geschlecht, Macht und Öffentlichkeit.
Solche Parallelen zeigen: Auch wenn die Machtverhältnisse sich gewandelt haben, bleibt die Frage nach der Darstellung, Legitimation und Bewertung von Frauen in der Politik hochaktuell. Die intensive Auseinandersetzung mit Maria Stuart hat damit nicht nur ein historisches Verständnis von Herrschaft vertieft, sondern auch dazu angeregt, über heutige Machtstrukturen nachzudenken – insbesondere über die spezifischen Herausforderungen, denen Frauen in politischen Ämtern begegnen.